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Interview: Das Thema Lesen im Digitalzeitalter

WIR ALLE MÜSSEN UNS DAS LESEN ZURÜCKEROBERN - sagt der Medienexperte Thomas Feibel und Leseliebe hat nachgefragt.

Leseliebe: Aufwachsen in der digitalen Welt – was bedeutet das für Kinder heute?

Thomas Feibel: 
Für Kinder ist die digitale Welt ein gigantischer Spielplatz, der niemals schläft. Sie kennen keine Berührungsängste und ihr unbekümmerter und explorativer Zugang zu digitalen Medien sorgt für eine bewundernswerte Leichtigkeit im Umgang damit. Darum beneiden viele Erwachsene ihre Kinder, sitzen aber dabei einem grundlegenden Missverständnis auf. Kinder und Jugendliche besitzen zwar eine hohe Bedienkompetenz, können aber meist die Folgen ihres Handelns in der digitalen Welt nicht einschätzen. Ein weitergeleiteter Kettenbrief sorgt bei Freunden und Mitschülern für Angst und Schrecken. Ein als harmloser Scherz gedachtes Foto kann rasch in handfestes Cybermobbing umschlagen. Und Internetbekanntschaften erschleichen sich raffiniert das kindliche Vertrauen, um Nacktbilder oder Schlimmeres einzufordern.

Was auf der Strecke bleibt ist vor allem eins: die Medienkompetenz. Es ist an uns Erwachsenen Kindern elementare Grundkenntnisse zu vermitteln. Medienkompetenz ist Schutz, damit Kinder wissen, wie sie in einem Notfall angstfrei reagieren können. Das müssen Eltern und Schule nicht alleine schultern. Die meisten öffentlichen Bibliotheken bieten da zum Beispiel ein erstaunlich umfangreiches Medienkompetenz-Angebot mit Konzepten, Geräten und dem Personal, das sich bestens damit auskennt.

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Thomas Feibel Lesen im Digitalzeitalter Mädchen mit Tablet

Leseliebe: Welche digitalen Medien nutzen Kinder überwiegend und wie ist ihr Nutzungsverhalten?

Thomas Feibel: In erster Linie begreifen Kinder digitale Medien als unerschöpfliches, frei zugängliches Unterhaltungsangebot. Auf Zuruf spielt Alexa Musik und Hörspiele ab. Unter ‚Fernsehen‘ versteht die junge Generation eher Netflix und YouTube als das herkömmliche lineare Programm. Und sobald Kinder ein eigenes Smartphone in den Händen halten, entscheiden sie meistens alleine, was und wie lange sie spielen. Eine große Rolle spielt auch die Kommunikation, vor allem mit WhatsApp. Oft gibt es in der Schule einen Klassenchat, in dem sie die Lehrkraft meist ohne Regeln sich selbst überlässt. 500 Nachrichten über Nacht, Beleidigungen und anderen Konflikte sind häufig die Folgen.

Ab dem Teenager-Alter nehmen dann soziale Medien einen großen Raum ein. Mädchen und Jungen wollen sich und ihre Wirkung auf andere ausprobieren. Wenn es Likes und Herzchen regnet, sorgt das für Bestätigung. Bleiben sie aus oder schreiben andere negative Kommentare, führt das zu schlechten Gefühlen, die einen in der Adoleszenz viel härter treffen.

Leseliebe: Kommen wir zum Thema Lesen. Was bedeutet lesen im Digitalzeitalter?

Thomas Feibel: Ohne Lesen geht auch bei digitalen Medien kaum etwas. Diese klassische Kulturtechnik hat auch im Informationszeitalter nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil: Wir müssen ihre Definition erweitern, denn jedes Medium benötigt eine eigene Lesefähigkeit. Mit den Kenntnissen einer Buchrezeption kommen wir bei „Fortnite“ nicht weiter. Games benötigen eine andere Lesefähigkeit. Ähnliches gilt auch für das Internet, das Büchern den Rang als Welterklärer abgelaufen hat. Doch Vorsicht: Im Gegensatz zum klassischen Lexikon ist im Web längst nicht alles wahr, was darin zu finden ist. Nur wer das notwendige Instrumentarium erlernt hat, kann hier den Weizen von der Spreu unterscheiden. Deshalb sprechen wir beim Thema Lesen auch von „die Welt deuten“.

Leseliebe: Bieten digitale Medien Chancen zur Leseförderung?

Thomas Feibel: Ja. Von allen Medien hat das Lesen die größte Hürde. Längst ist es nicht so bequem wie Fernsehen. Hier können Apps durch Interaktion und Animation die Leselust wecken. Für Leseanfänger sind dabei die Angebote empfehlenswert, bei der die Vorlesefunktion ein- und abschaltbar ist. Letztlich ist aber der größte Motivator die Geschichte selbst, schafft sie es  - ob in der App oder als Buch –  das Kind in ihren Bann zu ziehen. Auch Kindern mit einer ausgeprägten Leseschwäche können spezielle, didaktisch ausgeklügelte Apps auf die Sprünge helfen. Besonders beeindruckend sind übrigens die Story-Apps von Wonderscope, die völlig neue Wege im interaktiven Geschichtenerzählen gehen.  Die Amerikaner lassen mit Augmented Reality-Effekten den Weltraum im eigenen Kinderzimmer entstehen, und die Protagonisten verwickeln ihre „Leser“ in einen Dialog. Großartig! Leider bisher nur auf englisch. Ein gesunder Medienmix ist jedoch das beste Rezept. Das ist ja auch die große Leistung von Antolin: Kinder lesen das klassische Buch, weil sie die Online-Fragen und das Sammeln von Punkten motiviert.  

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Thomas Feibel Lesen im Digitalzeitalter Junge mit Laptop

Leseliebe: Was sind Risiken und Gefahren? Leidet die Konzentrationsfähigkeit?

Thomas Feibel: Wenn wir Erwachsenen ganz ehrlich wären, dann müssten wir eigentlich zugeben, dass sich unser eigenes Leseverhalten durch das Internet stark verändert hat. Wer den ganzen Tag online Informations-Häppchen liest, dem fällt es deutlich schwerer in eine Geschichte abzutauchen. Kindern ergeht es ganz ähnlich. Durch Fernsehen und den frühen Besitz eines eigenen Smartphones ist bei Kindern die ohnehin schon schwach ausgeprägte Aufmerksamkeitspanne noch stärker gesunken. Wir Erwachsenen müssen uns alle das Lesen zurückerobern, um auch beim Thema Lesen unserer Vorbildfunktion gerecht zu werden. Denn wenn wir bei Kindern vom Lesen sprechen, geht es nicht nur um das reine Entziffern von Worten, sondern vor allem um das sinnhafte Erfassen von Zusammenhängen, das Abtauchen in eine Geschichte und dazu Welten im Kopf entstehen lassen. Wenn wir also vergessen, dass wir eigentlich nur dasitzen und auf ein Papier oder E-Book starren, haben wir gewonnen.

Leseliebe: Was ist darüber hinaus zu beachten? Tipps für die Eltern!

Thomas Feibel: Dass Kinder und Jugendliche nur schlecht mit der Kunst des Bedürfnisaufschubs umgehen können, ist völlig normal. Die ständige Verfügbarkeit digitaler Medien erschwert jedoch das Erlernen der Selbstregulation, denn die Nutzung mobiler Geräte lässt sich viel schwerer kontrollieren und stellt Eltern vor nahezu unlösbare Herausforderungen. Eine richtige Lösung gibt es nicht. Ich halte es jedoch für wichtig, Kindern und Jugendlichen die Gestaltungsmöglichkeiten des Smartphones und Internets zu zeigen, damit sie diese Instrumentarien als Werkzeug begreifen. Gestalten ist ein guter Weg, um Kinder vorm reinen Konsumieren zu bewahren. Wer zum Beispiel einmal einen Film gedreht und geschnitten hat, lernt hinter das Konstrukt zu schauen. Ähnliches gilt fürs Programmieren.

Der wichtigste Tipp lautet aber auch: Vorlesen, vorlesen, vorlesen. Ganz gleich, ob aus einem Printbuch, einem E-Book oder einer App. Wir können Kindern vorlesen bis sie 16 oder 17 Jahre alt sind, wenn sie die Geschichte interessiert.

Medienexperte & Autor

Thomas Feibel

Der Medienexperte, Autor und vierfache Vater Thomas Feibel ist in Deutschland der führende Journalist zum Thema Kinder und digitale Medien. Er leitet das Büro für Kindermedien in Berlin und veröffentlicht regelmäßig Beiträge für renommierte Medien wie Spiegel.de, Deutschlandradio oder das RBB-Fernsehen. Dazu hält der freiberufliche Journalist Vorträge, führt regelmäßig Workshops und Lesungen in Bibliotheken und Schulen durch und hat bereits zahlreiche Kindersachbücher zur Medienerziehung sowie Kinder- und Jugendbücher zum Aufwachsen in der digitalen Welt veröffentlicht. Für seine Arbeit zur Leseförderung und Vermittlung elektronischer Medien für Kinder und Jugendliche wurde er 2014 von Bibliothek & Information Deutschland (BID) mit der Karl-Preusker-Medaille ausgezeichnet.

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Thomas Feibel Foto

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