Artikel: Starke Gefühle bei Kindern
 
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Interview: Wenn Gefühle Kinder überwältigen

So viel Freude, so viel Wut – wir haben mit Kinderpsychologe Oliver Dierssen über gefühlsstarke Kinder gesprochen.

Leseliebe: Herr Dr. Dierssen, Sie sind niedergelassener Facharzt für Kinder- und Jugendpsychologie und geben in den sozialen Medien (Twitter @KJPGehrden), in Podcasts, Interviews und anderen Formaten Ratschläge zum Kindeswohl und für ein gelingendes Miteinander im Leben mit Kindern. Welche Berührungspunkte haben Sie als Experte mit dem Begriff „gefühlsstarke Kinder“, der in den letzten Jahren immer prominenter wird?

Dr. Oliver Dierssen: „Gefühlsstarke Kinder“ gibt es überall und hat es natürlich auch schon immer gegeben, und es gut, dass wir inzwischen ein Konzept davon haben, was Gefühlsstärke ist. Natürlich bedeutet Gefühlsstärke nicht, dass eine kinderpsychiatrische Untersuchung oder Behandlung notwendig ist. Allerdings finden wir in unserer Praxis viele Kinder, die aufgrund ihres Temperaments negative Erfahrungen gemacht haben, woraus sich auch eine emotionale Belastung ergibt. Meine Eindruck ist: Je mehr wir über Gefühlsstärke wissen, desto leichter können wir uns auf diese Kinder (und auch Erwachsenen) einstellen und so dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis zu stärken.

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Was macht eine Familie aus

Leseliebe: Warum fühlen manche Kinder stärker als andere?

Grundsätzlich ist die Stärke der Emotionalität ein Persönlichkeitsmerkmal – und auch einfach ein Teil des So-Seins jedes Menschen. Warum sind manche Menschen groß und andere kleiner? Warum sind manche musikalisch und andere nicht? Es gibt einfach eine große Vielfalt, ohne dass wir die Gründe dafür verstehen oder benennen müssten. Zugleich muss auch gesagt werden: Kinder lernen ihre Gefühlsregulation meist von ihren Eltern. Und wer Eltern hat, die Selbstberuhigung und –tröstung gut vorleben und Kindern hierbei helfen, dem gelingt der Umgang mit den eigenen Gefühlen besser.

Leseliebe: Verändert sich diese Gefühlsstärke mit dem Älterwerden?

Dr. Oliver Dierssen: Die allermeisten Menschen erlernen im Laufe ihres Lebens viele wirksame Strategien im Umgang mit ihren Gefühlen. Sie knüpfen immer mehr haltgebende Beziehungen, die hier eine wirksame Unterstützung geben können. Grundsätzlich ist ein gefühlsstarkes Temperament aber auch ein wertvoller Teil der Persönlichkeit, der sich gar nicht verändern braucht. Wenn sich allerdings häufig Konflikte ergeben, ist es wichtig Kindern und Jugendlichen eine wirksame Unterstützung zur Bewältigung ihrer intensiven Emotionalität an die Seite zu stellen.

Leseliebe: Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was man gefühlsstarke Kinder nennt und hochsensiblen Kindern oder Kindern mit AD(H)S?

Dr. Oliver Dierssen: Gefühlsstärke und Sensibilität sind Begriffe, die wissenschaftlich nicht eng umschrieben sind. Hier gibt es große Überschneidungen, und mir persönlich fällt es schwer, die große Vielfalt des menschlichen Gefühlslebens auf so schmale Begriffe einzuengen, die manchmal ja fast wie Diagnosen benutzt werden. Diese Begriffe können dabei helfen, Verständnis für das Temperament der betroffenen Menschen zu wecken. Sie sollten aber keineswegs als strikte Kategorien eines Persönlichkeitszüge Verwendet werden. ADHS ist eine konkret umschriebene Erkrankung, die neben der Gefühlsregulation auch exekutive Funktionen wie Konzentration und Aufmerksamkeit Priorisierung von Aufgaben und innere Strukturierung umfasst. Ich finde es wichtig, eine solche Erkrankung im Hinterkopf zu behalten, wenn wir über Gefühlsstärke sprechen. Denn eine solche Diagnose bietet konkrete therapeutische Ansätze, die unbedingt bedacht werden sollten.

Leseliebe: Wie findet man heraus, was auf das eigene Kind zutrifft und wie man sie am besten unterstützt?

Dr. Oliver Dierssen: Es gibt Checklisten in guten Fachbüchern, die ich sehr hilfreich finde. Wichtig ist mir dabei: Gefühlsstärke ist auch relativ, sie wird deutlich im Verhältnis zur Gefühlsstärke des sozialen Umfeldes. In Deutschland sind wir häufig ruhigere Töne gewöhnt, dies ist in anderen Kulturen durchaus anders üblich. Deswegen sehe ich Gefühlsstärke auch nicht als Diagnose, die man „hat“, sondern vor allem als deutlichen Kontrast zwischen dem emotionalen Erleben eines Menschen und seiner sozialen Umgebung. Wenn Eltern, die ihr Kind ja am besten kennen, dies wieder und wieder wahrnehmen, können sie getrost von einer „Gefühlsstärke“ ausgehen, ohne dass ein Test oder eine fachliche Begutachtung notwendig ist.

Leseliebe: Gibt es Dos und Don'ts für den Umgang mit starken Gefühlen bei Kindern?

Dr. Oliver Dierssen: Es gelten die Grundsätze, die allgemein im Umgang mit anderen Menschen hilfreich sind: Neugierig wahrnehmen, möglichst wenig bewerten. Fast alle Menschen sind in bestimmten Situationen gefühlsstark, jeder war schon einmal in der Situation, von den eigenen Gefühlen überwältigt zu werden. Was brauche ich da besonders? Natürlich benötige ich liebevolle Unterstützung bei der Bewältigung der Gefühle und wirksame Strategien, um mich wieder zu beruhigen. Noch viel wichtiger aber ist emotionaler Beistand: Die Sicherheit, trotz meiner Emotionalität, meines So-Seins, nicht abgelehnt zu werden, sondern weiterhin liebgehabt.

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Gefühlsstarke Kinder Bedürfnisse erkennen

Leseliebe: Was sind besonderen Herausforderungen für Eltern im Umgang mit gefühlsstarken Kindern? Und wie gehen Eltern mit negativen Reaktionen in ihrem Umfeld positiv um?

Dr. Oliver Dierssen: Eltern benötigen zunächst wirksame Strategien im Umgang mit ihren eigenen Gefühlen, denn im Alltag mit einem gefühlsstarken Kind kann es auch mal drunter und drüber gehen. Hier möchte ich Eltern ermutigen: Es ist eine gute Idee, solche Strategien zur Selbstberuhigung aktiv zu lernen und zu trainieren. Dies ist hilfreich für uns Eltern, zugleich sind wir auch Vorbilder für unsere Kinder. Wenn aus dem Umfeld viele negative Reaktionen kommen, ist es nicht nur wichtig, dass Kind hiervon ein Stück weit abzuschirmen. Solche Reaktionen können auch unser elterliches Selbstwertgefühl angreifen, uns verletzen und verunsichern. Deswegen ist es für Eltern wichtig zu lernen, mit solchen Verunsicherungen umzugehen und sich selbst Mut und Bestätigung zuzusprechen.

Leseliebe: Und zum Schluss noch die Frage: Was können Eltern tun, wenn sie sich mit der Erziehung ihres Kindes total überfordert fühlen oder am Ende ihrer Kräfte sind?

Dr. Oliver Dierssen: Ich würde fast sagen: An diesen Punkt kommen alle Eltern einmal, und Eltern eines gefühlsstarken Kindes erst recht. Das ist normal, dafür braucht man sich nicht zu schämen. Keineswegs sollten Eltern versuchen, alle Herausforderungen immer allein zu meistern und jeden Stress seelenruhig wegzuatmen. Das gelingt nur den wenigsten, normal ist hingegen, auch mal die Fassung zu verlieren. Gerade in einer solchen Lebenssituation ist Selbstfürsorge sehr wichtig. Wer seinem Kind vorlebt: „Es ist nicht so wichtig, wie es mir selbst geht, es ist nur wichtig, wie es den anderen geht.“, ist in Hinblick auf Selbstfürsorge kein so gutes Vorbild. Deswegen ist es für alle Kinder, erst recht auch für gefühlsstarke Kinder, ein wichtiger Lernprozess zu verstehen, dass Eltern auch Zeit für die eigene Erholung brauchen und die kindlichen Bedürfnisse dann auch mal zurückstehen müssen.

Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Dr. med. Oliver Dierssen

Neben seiner Arbeit als niedergelassener Facharzt schreibt und spricht Oliver Dierssen in den sozialen Netzwerken und für renommierte Medienformate über Kindeswohlfragen und das Leben mit Kindern. Dabei setzt sich der Vater von zwei Töchtern intensiv für eine bindungsorientierte und gewaltfreie Erziehung ein. Darüber hinaus veröffentlicht Oliver Dierssen auch noch Fachliteratur und fantastische Romane.

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Dr. med. Oliver Dierssen

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