Artikel: Bedürfnisse erkennen
 
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Gastbeitrag: Was brauch ich und was brauchst du?

Nora Imlau verrät, was uns hilft, wenn nichts nach Plan läuft und warum sie jetzt auch Bücher für Kinder schreibt!

Pläne haben, ist etwas Wunderbares: Man kann sich gemeinsam vorfreuen, sich vorstellen, wie toll alles werden wird, und spürt ein bisschen mehr Berechenbarkeit und Verlässlichkeit im Leben. Bis – bäm! – der schöne Plan platzt. Weil das Auto nicht anspringt, die Straßenbahn nicht kommt, ein Kind krank wird, ein Gewitter aufzieht, der Geburtstagskuchen im Ofen verbrennt oder das Schwimmbad geschlossen hat. Und dann? Ist der Frust oft groß. Der schöne Plan! Alles kaputt! Ärger, Wut und Enttäuschung brechen aus unseren Kindern heraus, mit einer Wucht, die uns Erwachsene oft erschreckt. Viele Eltern geraten in solchen Momenten in große emotionale Not: Wie sollen sie diese Gefühlsstürme nun wieder einfangen? Welches Geheimrezept hilft gegen die Enttäuschung eines Kindes, dessen Plan nicht aufgegangen ist?

Was hilft bei Ärger, Wut und Enttäuschung wegen geplatzter Pläne?

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Bedürfnisse von Kindern

Tatsächlich hilft in solchen Stresssituationen vor allem eins: selbst einigermaßen ruhig zu bleiben und sich nicht mitreißen zu lassen vom Schmerz der Kleinen. Denn wütend sein ist anstrengend genug – wenn Mama oder Papa dann auch noch mitwüten, wird die Situation schnell für alle untragbar. Stattdessen sehnen sich kleine Kinder gerade in Wut- und Frustmomenten nach Halt, Sicherheit und einem sicheren Hafen für ihre großen wilden Gefühle. Co-Regulation nennt man das in der Fachsprache, wenn Eltern ihren Kindern emotionale Unterstützung bei deren Ritt durch ihren inneren Wirbelsturm an Emotionen anbieten. Wie genau diese Regulationshilfe aussehen kann, ist von Kind zu Kind verschieden.

Kleine Kinder reagieren oft gut auf Körperkontakt, Nähe und Begrenzung. Sie profitieren vom Gefühl des Gehalten- und Geborgenseins, etwa in der Tragehilfe oder einfach auf dem Schoß. Andere Kinder können Berührungen in akuten Stresssituationen gar nicht ab und wünschen sich eher eine verbale Regulationshilfe: „Ich bin da.“, „Du bist nicht allein.“, „Alles wird gut.“ Wichtig ist, dass das Kind weiß, dass es für seine Wut, seinen Frust und seine Enttäuschung nicht bestraft und nicht verurteilt wird. Es macht kein Drama und kein Theater, es stellt sich nicht an und muss sich nicht zusammenreißen. Es fühlt Gefühle, und die bringt es zum Ausdruck. Das ist sein gutes Recht und sehr gesund. Natürlich dürfen wir Eltern bei diesen Gefühlsäußerungen lenkend eingreifen: Sich selbst und andere zu gefährden oder gar zu verletzen, ist tabu ebenso wie das Zerstören von Gegenständen. Doch anstatt nur Verbote auszusprechen, ist es gut, die Impulse des Kindes geschickt umzuleiten: Ja, du darfst hauen, aber nur ins Sofakissen. Ja, du darfst mit Gegenständen werfen, aber nur mit nassen Schwämmen gegen die Hauswand. Und ja, du darfst laut fluchen und schimpfen, aber nur mit kreativen lustigen Schimpfworten, nicht mit handfesten Beleidigungen.

Bedürfnisse entdecken und erkennen

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Leben mit Kindern

Mit etwas älteren Kindern können wir zusätzlich üben, die Bedürfnisse hinter den eigenen großen Gefühlen zu entdecken und zu erkennen. Denn unsere Emotionen überfallen uns ja nicht aus dem Nichts heraus, sondern wurzeln in unerfüllten Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen. „Was brauch ich und was brauchst du?“ kann deshalb eine ganz wertvolle Leitfrage für ein gelingendes Familienleben sein, weil sie den Fokus darauf lenkt, dass wir alle in unserem Fühlen und Handeln von Bedürfnissen angetrieben sind – und dass Konflikte oft entstehen, wenn Bedürfnisse sehr unterschiedlich sind. Umso wertvoller ist es, gemeinsam genau hinzuschauen: Was fehlt mir gerade, und was brauchst du? Bedürfnisse sind dabei etwas anderes als Wünsche. Sie sind nicht konkret und spezifisch, sondern universal. In „Ein total genialer Mummeltag“ entspricht der Plan der Mummels gemeinsam ins Schwimmbad zu gehen, beispielsweise einem solchen Wunsch. Doch hinter diesem Wunsch steht das tiefe Bedürfnis nach Gemeinschaft, Verbundenheit und Spaß. Und das können sich die Mummels als das Schwimmbad geschlossen hat, nach einem kurzen Frustmoment auch anders erfüllen.

Wünsche können uns also den Weg weisen zu unseren innersten Bedürfnissen: dem nach Freiheit und Autonomie, nach Ruhe und Rückzug, nach Nähe und Geborgenheit, nach Spaß und Entspannung, nach Verbundenheit, nach Wertschätzung, nach Liebe und Sinn. Und je genauer wir verstehen, was wir da eigentlich wirklich brauchen, desto vielfältigere Wege können wir finden, uns unsere Bedürfnisse zu erfüllen – auch dann, wenn nichts nach Plan läuft. Denn Pläne können und dürfen sich ändern. Was für ein Felsblock uns auch im Weg liegt – es lassen sich fast immer Umwege finden, um trotzdem zu bekommen, was wir brauchen. Nur vielleicht ganz anders, als wir uns das eigentlich vorgestellt hatten.

Mit Zeit und Geduld zu einem neuen Plan

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Wünsche und Bedürfnisse

Natürlich ist dieses Suchen und Erkennen von Bedürfnissen nichts, was immer reibungslos funktioniert. Manchmal ist der Ärger zu groß, um genauer hinschauen zu können, und manchmal sind wir innerlich einfach auch noch nicht bereit, einen geplatzten Plan loszulassen. Das ist sehr menschlich und völlig okay. Was es dann braucht, ist vor allem Zeit und Geduld, den verpufften Traum gemeinsam zu betrauern, die damit einher gehenden Gefühle gemeinsam durchzufühlen, und dann erst zu überlegen, wie es jetzt weitergehen kann.

Für uns Eltern bedeutet das oft ein inneres Umlernen. Denn als wir Kinder waren, haben viele von uns nicht erlebt, dass es ganz in Ordnung ist, über geplatzte Pläne wütend, traurig oder enttäuscht zu sein. Stattdessen sollten wir vernünftig sein, Verständnis haben und vor allem keine Szene machen. Es ist schwer, diese alten Prägungen abzulegen. Aber super wertvoll, nicht nur für unsere Kinder. Denn wer immer alle schwierigen Gefühle runterschluckt, verpasst die Chance, zu schauen, was sie uns sagen können: über uns selbst und unsere unerfüllten Bedürfnisse. Trauen wir uns hingegen, gemeinsam mit unseren Kindern rauszufinden, was uns da eigentlich so traurig, enttäuscht, wütend oder eifersüchtig macht, lernen wir nicht nur unsere Kinder besser zu verstehen, sondern auch uns selbst.

Gemeinsam Pläne zu schmieden und manchmal auch wieder loslassen zu müssen, ist also eine ganz wichtige Entwicklungschance für Kinder wie für Erwachsene. Denn dabei lernen wir nicht nur, dass im Leben nie alles nach Plan läuft, sondern auch, wie wir es uns trotzdem immer wieder zusammen schön machen können.

Starke Gefühle beim Kind

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So viel Freude so viel Wut

Besonders herausfordernd ist die Regulation der eigenen Emotionen für so genannte gefühlsstarke Kinder, also Kinder, die besonders sensibel auf Stress reagieren und sehr extreme emotionale Reaktionen zeigen, die sie oft selbst kaum beherrschen können. Gefühlsstärke ist keine Diagnose und kein medizinischer Fachbegriff, sondern einfach eine wertschätzende Beschreibung für eine besondere Spielart der Persönlichkeitsentwicklung: So, wie manche Kinder mit einem ruhigen, ausgeglichenen, regulationsstarken Temperament zur Welt kommen, werden gefühlsstarke Kinder mit einem sehr intensiven, fordernden, sensiblen Wesen geboren, und brauchen dementsprechend mehr Begleitung im Umgang mit ihren großen Emotionen. Sie sind genauso richtig wie alle anderen Kinder auch, ecken aber häufiger an, weil sie oft nicht die Erwartungen erfüllen können, die unsere Gesellschaft an wohlerzogene Kinder stellt. Gefühlsstarke Kinder sind häufig motorisch unruhig und emotional sprunghaft, unglaublich sensibel und gleichzeitig sehr laut und fordernd in ihrem Auftreten, und voller innerer Spannung und Widersprüchlichkeit.

Von der US-amerikanischen Autorin Mary Sheedy Kurcinka ursprünglich als „spirited children“ beschrieben, habe ich mit meinen Büchern „So viel Freude, so viel Wut“ und „Du bist anders, du bist gut“ im deutschsprachigen Raum den Begriff der gefühlsstarken Kinder für sie eingeführt. Der Begriff hilft Eltern, einen liebevollen, stärkenorientierten Blick auf ihr Kind einzunehmen und zu verstehen, dass sie nichts falsch gemacht haben in der Erziehung – ihr Kind ist, wie es ist, weil es gefühlsstark ist!

Wichtig ist mir dabei, dass wir uns klar machen, dass Temperamente ein Spektrum darstellen. Es gibt also nicht nur klar regulationsstarke und eindeutig gefühlstarke Kinder, sondern unzählige Varianten dazwischen, die jeweils eine ganz eigene Persönlichkeit ergeben. Für uns Eltern heißt das: Unser Kind kommt mit einem ganz eigenen Mix von Persönlichkeitsmerkmalen zur Welt, die wir ganz in Ruhe kennenlernen dürfen – um ihm dann die Eltern zu sein, die gerade dieses Kind braucht. Was dabei für alle Kinder wichtig ist, ist das Gefühl, angenommen und geliebt zu sein, genau so, wie sie sind – auch und gerade in den Momenten, in denen sie schwierige und herausfordernde Verhaltensweisen zeigen.

Und was fühlst du, Känguru?

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Und was fühlst du, Känguru? Innenseite

Nachdem ich in mehr als zehn Sachbüchern für Eltern und pädagogische Fachkräfte viel darüber geschrieben habe, was einen wertschätzenden Umgang mit Kindern ausmacht und wie es gelingen kann, die Bedürfnisse der Großen und der Kleinen, der gefühlsstarken und der nicht ganz so gefühlsstarken Menschen in einer Familie oder einer Gruppe unter einen Hut zu bekommen, war es mir ein großes Anliegen, meine Grundidee eines zugewandten Familienlebens auch in Büchern für Kinder sichtbar und erfahrbar zu machen. Mein Bilderbuch „Und was fühlst du, Känguru?“ habe ich ursprünglich für meinen kleinen Sohn geschrieben, der selbst so ein kleiner Quirin ist: voller großer Gefühle, die ihn manchmal selbst überwältigen. In meiner Reimgeschichte zu erzählen, wie Mama und Papa Känguru ihr sprunghaftes, sensibles und sicher auch manchmal ganz schön störrisch wirkendes Kind liebevoll und geduldig so begleiten, dass es die Welt bald wieder aushalten kann – das war auch für mich selbst als Mutter heilsam, weil es wie eine Manifestation davon war, wie ich für meine Kinder sein will. Und genau diese Rückmeldung habe ich nun von ganz vielen Eltern ebenfalls bekommen: Dass nicht nur ihre Kinder mein kleines Känguru lieben und sich in ihm wiedererkennen, sondern dass auch die Eltern gerührt sind über das liebevolle Vorbild der Känguru-Eltern im Buch, und dass ihnen diese Geschichte dabei hilft, selbst auch liebevoller, sanfter und geduldiger mit ihrem Nachwuchs zu sein.

Ein total genialer Mummeltag

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Ein total genialer Mummeltag Innenseite

„Ein total genialer Mummeltag“ entstand dann aus der Leitfrage meines Ratgebers „Mein Familienkompass“ heraus, die da lautet: Was brauch ich und was brauchst du? Keine Frage ist für mich im Familienleben wichtiger, weil sie den Fokus darauf lenkt, dass wirklich jedes Verhalten, jedes Gefühl, alles, was wir tun und lassen letztlich mit unseren Bedürfnissen zu tun hat. Und wenn wir da hingucken, also wirklich schauen, was jede*r in unserer Familie braucht, dann ist das der Schlüssel zu einem wirklich zugewandten, verbindenden Miteinander.

Die fröhlich-chaotische Mummelfamilie verkörpert für mich genau das: Niemand in dieser Familie ist perfekt oder makellos, alle haben ihre Stärken und Schwächen, Wutausbrüche, Enttäuschungen und Genervtheiten. Aber weil sie es schaffen, sich immer wieder darauf zu besinnen, was alle brauchen, haben sie es richtig gut miteinander und fühlen sich beieinander geborgen. Das große, sanftmütige kuschelweiche Mummel ist dabei wieder so eine Identifikationsfigur für mich: Es hat die Bedürfnisse aller Kinder im Blick, vergisst darüber aber auch sich selbst nicht und sorgt gut für sich. Außerdem finde ich es als Mutter von vier Kindern schön, auch mal eine größere Familie im Bilderbuch zeigen zu können, vom Teenie bis zum Baby. Da ist natürlich auch einiges aus unserem eigenen Alltag eingeflossen – gerade beim coolen Mummel mit seinen Kopfhörern, das am Ende mit seinem Smartphone den Tag rettet. Da sehe ich meine schon jugendlichen Kinder vor mir, die natürlich auch viel zu cool für Begeisterung über Familienausflüge sind, zähneknirschend trotzdem mitkommen und dann so viel Spaß haben!

Wie reagiert dein Kind, wenn Pläne scheitern? Wie reagierst du auf Wut, Ärger und Enttäuschung in der Familie? Schreib uns gerne einen Kommentar!

Autorin

Nora Imlau

Nora Imlau ist eine erfolgreiche Journalistin, Fachautorin und Referentin für Familienthemen. Mehrerer ihrer Sachbücher sind zu Bestsellern avanciert, darunter „So viel Freude, so viel Wut“ und „Du bist anders, du bist gut“, mit denen sie den Begriff der gefühlsstarken Kinder im deutschen Sprachraum einführte. Mit „Ein total genialer Mummeltag“ und „Und was fühlst du, Känguru?“ hat die vierfache Mutter erstmals auch Kinderbücher veröffentlicht.

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Familienexpertin Nora Imlau

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