Artikel: Lebensrealitäten im Bilderbuch
 
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Gastbeitrag: Warum ist es so wichtig, Vielfalt im Bilderbuch zu zeigen?

Entdecke mit Carlsen-Lektorin Marlen Bialek die neue Vielfalt im Bilderbuch und die inspirierenden Überlegungen dahinter!

Bilderbuchmacher*innen haben eine große Verantwortung. Denn mit unseren Büchern tragen wir maßgeblich dazu bei, kleinen Menschen die Welt zu zeigen und zu erklären, aber auch Fenster in fantastische Sphären zu eröffnen. Gute Bilderbücher regen Kinder an. Sie erzählen von Alltagserlebnissen, bringen zum Lachen oder zum Nachdenken, hinterfragen Klischees und bieten unseren Kindern Identifikationsmöglichkeiten.

Weil wir in einer vielfältigen Gesellschaft leben, ist es uns besonders wichtig, möglichst alle Facetten des täglichen Zusammenlebens abzubilden: Diverse soziale Strukturen, Religionen, Familienmodelle, Migrationsgeschichten, Hautfarben, Körperformen, behinderte und nicht-behinderte Figuren und Genderidentitäten möchten wir ganz selbstverständlich zeigen – eben genau so, wie sie im echten Leben stattfinden. Denn nur, wenn sich unsere Kinder in Geschichten wiederfinden, können sie sich vorstellen, selbst Teil der Abenteuer zu sein, die wir ihnen vorlesen. Dabei spielt nicht unbedingt das Verbreiten einer vordergründigen Botschaft eine Rolle, sondern wir möchten der Vielfalt Rechnung tragen, indem wir sie zeigen.

Vater, Mutter, Kind, Kind, Hund? Ja, aber nicht nur!

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Vielfalt im Bilderbuch - So sind Familien

Geschichten über Familien wurden lange genau so erzählt: Der kleine Bruder und die große Schwester leben mit Mama und Papa (natürlich sind die beiden die biologischen Eltern) zusammen. Gerne auch mit mindestens einem Haustier. Dass Familie zuallererst Liebe bedeutet und einen Ort bezeichnet, an dem sich alle geborgen fühlen, steht glücklicherweise seit einiger Zeit im Fokus des gesamtgesellschaftlichen Bewusstseins und auch in den Fokus unserer Geschichten. In dem Vorlesebuch „So sind Familien“ war es uns beispielsweise ein großes Anliegen, zu vermitteln, dass die Familie, egal wie sie sich zusammensetzt, richtig ist und vollkommen. Regenbogenfamilien, Patchworkfamilien, Großfamilien, Kleinfamilien, Familienmitglieder mit Behinderungen, Familien ohne Eltern oder sogar Familien ohne Kinder – mit und ohne Migrationsgeschichten: Das Buch bietet unheimlich viel Identifikationspotenzial und vermittelt dadurch: Du und deine Familie seid gut.

Bei der Entstehung des Buches war es allen Beteiligten wichtig, authentisch und lebensnah von verschiedenen Familienmodellen zu erzählen und diese auch in den Bildern zu zeigen.

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Vielfalt im Bilderbuch - es gibt viele verschiedene Lebensrealitäten

Dass Kinder – ob groß, klein, mehrgewichtig oder nicht, ob mit oder ohne Behinderung, mit oder ohne sichtbare chronische Krankheit, ob weiß oder of Colour – bei einem Elternteil aufwachsen oder zwei Mamas oder Papas haben, dass sich Eltern auch mal trennen oder versterben, dass sich manche Kinder von Herzen ein Geschwister wünschen und andere am liebsten mal alleine wären, schwingt in den Geschichten mit, ohne im Fokus zu stehen. Denn viel wichtiger sind hier die kleinen und großen Alltagsabenteuer, die die Kinder erleben: Sie lernen Rad fahren, kommen in die Schule, spielen verschiedene Spiele, wünschen sich ein Haustier, entscheiden sich für einen neuen Haarschnitt oder besuchen ihre Großeltern. So erleben die Held*innen der Geschichten genau das, was unsere Kinder im Alltag erleben. Sie bieten Identifikationspotenzial, zeigen Lösungsstrategien und Ideen auf und vermitteln: Schau mal, ich sehe aus wie du und ich erlebe das, was du kennst.

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Vielfalt im Bilderbuch - zwei Mütter in So schlafen die Tiere

Aber nicht nur auf der Erzählebene, sondern auch auf der Bildebene möchten wir Repräsentanz schaffen. In der Gutenachtgeschichte „So schlafen die Tiere“ zeigen wir beispielsweise zunächst ein Kind und seine beiden Mütter. Diese Familienkonstellation wird nirgends kommentiert, ist aber eine Einladung, über Familienmodelle ins Gespräch zu kommen, zu reflektieren und vielleicht die eigene Familie zu entdecken.

Für Mädchen? Für Jungen? Für alle!

Dass die Welt groß und weit ist, spüren Kinder intuitiv. Oft sind es die Erwachsenen, die in starren Denkmustern verharren und glauben, dass es Dinge gibt, die nur für Mädchen gemacht sind, und Dinge extra für Jungs. Was für ein großer Quatsch das ist und dass es wahnsinnig viel Spaß macht, diese Muster zu hinterfragen, Neues zu lernen und ein Leben jenseits der Geschlechterschubladen zu führen, erfahren wir im Bilderbuch „Das ist doch nur für Mädchen“, bei dem sich die Vielfalt an Möglichkeiten für die Kinder auf jeder Doppelseite vergrößert und durch das auch erwachsene Vorlesende im besten Fall etwas dazulernen können. So gelingt es nicht nur den Figuren im Buch, zu verstehen, dass Kleidung, Farben, Spielzeug, Sportarten und Spiele eben kein Geschlecht kennen. Und dass Vorlieben keinen Einfluss auf die Genderidentität haben. Alles ist für alle da und Kinder wachsen mit den Möglichkeiten, die wir Ihnen anbieten. Diese Botschaft und das bewusste Infragestellen der Klischees sollen unsere Kinder empowern, zu sich selbst zu stehen.

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Vielfalt im Bilderbuch - alles ist für alle da

Das Buch zeigt: Es ist völlig okay, als Junge glitzernde Dinge und knallige Farben zu mögen, es ist okay, Röcke und Puppen toll zu finden. Genauso okay ist es aber natürlich, auf Autos, technisches Spielzeug und Fußball zu stehen. Für Mädchen gilt selbstverständlich genau das gleiche. Nur weil sie eben kein Rosa mögen oder die Haare lieber kurz tragen, sind sie nicht falsch, sondern genauso richtig, wie ihre Freundinnen, die sich am liebsten in Pink kleiden, Ballett tanzen und sich als Prinzessin verkleiden. Es geht eben darum, sich und die eigene Genderidentität nicht in bestimmte Schubladen pressen zu müssen. Damit dies auch in der KiTa, auf dem Spielplatz und in Interaktion mit ihrer Umwelt gelingt, brauchen Kinder positive Vorbilder – auch im Bücherregal.

Wir alle dürfen einzigartig sein

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Vielfalt im Bilderbuch - Wir alle sind gleich wichtig

Dass in unser aller Leben verschiedene Realitäten gelten, erzählt auch das Sachbilderbuch „WIR alle“ ganz wunderbar. Bei der Entstehung des Titels war es uns wichtig, zu zeigen, was uns Menschen auf der Welt verbindet und was uns unterscheidet. Auf der Erde leben schließlich fast acht Milliarden Menschen. Es wäre doch sehr langweilig, wenn wir alle gleich aussehen würden, die gleichen Vorlieben teilten und die gleichen Gedanken hätten. Dass das Leben und Erleben überall auf der Welt gleich wichtig und gleich wertvoll ist, dass wir aber dennoch alle unterschiedliche Lebensrealitäten, Wünsche und Träume haben, vermittelt der Titel sehr liebevoll und kindgerecht. Es wird keine Geschichte im klassischen Sinn erzählt, sondern viele einzelne Bilder und kleine Szenen laden Kinder und Erwachsene dazu ein, zu überlegen: Was mag ich? Was fühle ich? Wie sieht mein Körper aus? Wo lebe ich? Was habe ich für Vorurteile? Was kann ich besonders gut und was brauche ich, um glücklich zu sein? Das Buch, in dem Wir-Gefühl und Verbindung miteinander eine tragende Rolle spielen, möchte die Kinder in ihrem Sein bestärken und ihnen zeigen, dass Vielfalt der Menschen größte Stärke ist.

Wir profitieren von Erfahrungen anderer und lernen dazu

Um der Verantwortung, Lebensrealitäten authentisch abzubilden, Rechnung zu tragen, arbeiten wir mit vielen verschiedenen Menschen zusammen. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen natürlich vor allem zwei Gruppen: Unsere Leser*innen und unsere Kreativen. Wir gehen mit offenen Augen durch die Welt, nehmen die Menschen genau wahr, für die wir Bücher schaffen, und sind sehr bemüht, an Themenbereichen, in den wir uns nicht kompetent fühlen, mit Own-Voice-Urheber*innen zu arbeiten. Außerdem greifen wir auf das Sensitivity-Reading zurück und arbeiten mit diversen Expert*innen zusammen, um sicherzustellen, dass gut gemeint und gut gemacht am Beispiel unserer Bücher identisch sind. Denn auch wir Bilderbuchmacher*innen lernen täglich dazu und brauchen Menschen in unserem Leben, die unseren Horizont erweitern, uns für Diskriminierungserfahrungen sensibilisieren und sich mit uns gemeinsam in das große Abenteuer stürzen, unterschiedliche Lebensrealitäten in guten Bilderbüchern zu zeigen.

Wie gefällt dir die neue Vielfalt im Bilderbuch? Gibt es Lebensrealitäten, die du in Kinderbüchern noch vermisst? Welches vielfältige Bilderbuch findest du besonders gut gelungen? Schreib uns gerne einen Kommentar!

Lektorin

Marlen Bialek

Marlen Bialek, geboren 1983, arbeitet mit großer Leidenschaft als Kinder- und Bilderbuchlektorin. Sie liebt es, gemeinsam mit Autor*innen und Illustrator*innen neue Geschichten zu entwickeln, die Kinder ernst nehmen und ihnen jede Menge Spaß machen.

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Lektorin Marlen Bialek

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