anspruchsvoll – künstlerisch – bedeutsam

„Zug der Fische“ ist keine gewöhnliche Bilderbuchgeschichte, sondern weicht in Thema und Erzählweise weit, weit vom Mainstream ab. Bilder und Text erzählen auf eine sehr eigene Weise von einem ukrainischen Mädchen, das wie viele andere Kinder in ihrem Dorf ohne Eltern aufwächst. Man erfährt, dass Marikas Mutter in Italien ist, um dort Geld zu verdienen. Weitere Bilderbuchseiten zeigen Fragmente aus Marikas Alltag. Wie sie Blaubeeren pflückt und auf dem Markt verkauft. Wie sie mit dem Bus in die Stadt fährt und sich bei jedem Vorbeifahren an einer Kapelle bekreuzigt. Wie sie die Briefe ihrer Mutter als ihren größten Schatz unter ihrem Kopfkissen aufbewahrt. Eingerahmt werden diese Eindrücke von einer weihnachtlichen Geldsendung, die auch andere Kinder im Dorf erhalten haben. Doch statt sich davon etwas zu kaufen, benutzen sie das Geld für eine Botschaft, die sie an den Fluss übergeben. „Kommt zurück“ soll ihr Zug der (Geld-)Fische den Eltern ausrichten!

Worum es in der Geschichte geht, erschließt sich für Kinder in erster Linie auf eine intuitive, emotionale Weise, indem sie Bilder betrachten und Szenen auf sich wirken lassen. Sachlich beim Namen nennt dann Journalist Keno Viersten Thematik. In einem ausführlichen Nachwort schildert er, was die sogenannten Eurowaisen sind, warum so viele Kinder in Osteuropa ohne ihre Eltern aufwachsen und was das eigentlich bedeutet. Mit diesem Nachwort-Wissen im Hinterkopf lädt das so künstlerisch umgesetzte Bilderbuch dazu ein, gleich noch einmal durchgeblättert und intensiv betrachtet zu werden. Es animiert dazu, sich mit seinem Kind über Dinge jenseits des eigenen Tellerrands auszutauschen. Autorin Yaroslava Black macht dabei vor, wie das schon mit Kindern ab 5 Jahren funktioniert: Ganz einfach, indem man die Szenen für sich stehen und wirken lässt. Der Abgleich mit der eigenen Lebenswirklichkeit geschieht dann ganz automatisch und lässt Kinderfragen entstehen, die zu wirklich wertvollen Gesprächen führen können.

Die eigentümlichen Bilder von Ulrike Jänichen haben eine ganz eigene Sprache, die nichts mit der schlichten Abbildung von Realität zu tun hat. Sie inszenieren mit eher grobem Strich eine eigene Bilderbuchwelt, die wie der Text von christlicher Symbolik durchzogen sind. Darin drückt sich neben dem kulturellen Kolorit auch das kindliche Bedürfnis nach einem Aufgehobensein aus. Denn wenn die Realität den Kindern das Gefühl elterlicher Geborgenheit versagt, dann braucht es einfach den Glauben an eine wundersame Instanz, die Gebete und Wünsche erhören kann. Die kunstvolle Vermittlung macht dabei das unbequeme Thema nicht nur für den Verstand zugänglich, sondern berührt auch auf einer emotionalen Ebene und setzt damit intensive Prozesse der Auseinandersetzung in Gang. Das macht das Bilderbuch so gut, dass es dafür bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Denn Bilderbücher wie dieses helfen bei der Entwicklung eines weiten Horizonts, eines wachen Geistes und kritischen Blicks. Bravo!

Hattest du mit der Thematik „Eurowaisen“ schon einmal Berührungspunkte? Wenn ja, welche? Liest du mit deinem Kind häufiger Bücher über ‚unbequeme‘ Themen? Hast du für uns vielleicht Tipps für richtig gute Kinderbücher zu schwierigen Themen? Welche Themen liegen dir besonders am Herzen? Schreib uns einen Kommentar!