Artikel: 6-10 Jahre
 
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Gastbeitrag: So wichtig ist die Lesegeschwindigkeit!

Beim Lesenlernen kommt es auch auf die Geschwindigkeit an. Expertin Dr. Miriam Stiehler erklärt, warum das so ist.

Manche Eltern haben Angst, mit dem Anstreben eines bestimmten Lesetempos schädlichen „Druck“ auf ihre Kinder auszuüben. Aber in Wirklichkeit verringert eine angemessene Lesegeschwindigkeit den Stress fürs Kind. Es ist ähnlich wie beim Fahrradfahren: Bei den ersten Versuchen fühlen sich Kinder angespannt, sind oft frustriert und fahren unsicher. Das liegt daran, dass noch jede Teilhandlung die volle Aufmerksamkeit fordert: Das Gleichgewicht halten, abwechselnd treten, den Lenker ausrichten, nach vorne schauen, bremsen… All diese Teilhandlungen laufen zunächst sehr bewusst ab und lasten das Kind geistig aus. Das fühlt sich anstrengend an. Wenn das Kind zuvor mit einem Laufrad geübt hat, hat es bereits Routine darin, das Gleichgewicht zu halten und zu lenken. Man sagt, diese Teilhandlung ist bereits „automatisiert“. Automatisierte Handlungen laufen wie von selbst ab, man empfindet sie nicht mehr als anstrengend. Entspannt Fahrrad fahren kann ein Kind ab dem Tag, an dem es durch häufiges Üben alle Teilhandlungen „automatisiert“ hat. Erst dann hat es außerdem „den Kopf frei“, um z.B. zusätzlich auf die Verkehrsschilder zu achten. Deshalb entlastet häufiges und gezieltes Üben Kinder letztlich von Druck, statt welchen aufzubauen. 

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Lesenlernen: Aller Anfang ist schwer

Beim Lesenlernen verhält es sich genauso wie beim Fahrradfahren: Lesen besteht aus vielen Teilhandlungen, die für das Kind noch neu sind. Es muss die Buchstaben erkennen, mit dem richtigen Laut verbinden, Schreibzeichen aus mehreren Buchstaben als zusammenhängend erkennen (z.B. das „au“ oder „sch“), die Laute zusammenschleifen, den zusammenhängenden Wortbaustein erfassen (z.B. „er-fass-en“ und nicht „erf-as-sen“), sich selbst das Wort vorsprechen, sich selbst dabei zuhören und das Wort dann - hoffentlich - wiedererkennen und verstehen. Besonders wichtig ist hier übrigens die richtige Aussprache der kurzen Vokale. Wenn ein Kind nämlich alle Vokale lang spricht (so, wie sie im Alphabet vorkommen), liest es z.B. „Eeeenteee“ statt „Ente“. Dann erkennt es das Wort nicht wieder, wenn es sich selbst beim Lesen zuhört. Man kann sogar im MRT zeigen, dass Leseanfänger zunächst über 25 Gehirnareale verwenden müssen, um ein Wort richtig zu erlesen. Ein so großer Aufwand fühlt sich für das Kind entsprechend anstrengend an - Lesefreude spürt es dabei noch nicht.  

Wer schnell lesen kann, hat den Kopf frei

Erst durch viel Übung gewinnt das Kind Routine in allen Teilleistungen des Lesens und kann sie „automatisiert“ zu einem flüssigen Vorgang verbinden. Das Gefühl von Unsicherheit und Anstrengung verschwindet dabei. Plötzlich radelt oder liest das Kind, als hätte es nie etwas anderes gemacht. Im MRT sieht man ab diesem Punkt, dass beim Lesen nur noch wenige Gehirnareale benötigt werden. Das Kind hat nun im wahrsten Sinne des Wortes „den Kopf frei“, um beim Radeln auf Verkehrszeichen zu achten und beim Lesen auf den Inhalt. Nun kann es Fragen zum Text beantworten oder auf die Rechtschreibung achten. 

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Das erklärt, warum flüssiges Lesen wichtig ist. Aber ab welchem Tempo kann man von „flüssig“ sprechen? Hierfür gibt es eine eindeutige Schwelle: Erst, wenn man im gleichen Tempo vorlesen kann, wie man normalerweise spricht, empfindet man das Lesen nicht mehr als anstrengend. Wenn wir jemandem unsere eigenen Gedanken erzählen, wenn wir uns unterhalten oder etwas erklären, sprechen wir in etwa mit einer Geschwindigkeit von 150 Wörtern pro Minute (WPM). Erst, wenn ein Kind in seiner normalen Sprechgeschwindigkeit lesen kann, fühlt es sich an, als wäre der Lesetext etwas ähnliches wie seine eigenen Gedanken. Ab diesem Punkt empfindet es das Lesen als leicht und reibungslos.

Die Lesegeschwindigkeit richtig üben

Je nach Übungsintensität, sprachlicher Intelligenz, Wortschatz, Selbstbeherrschung und Konzentrationsfähigkeit erreichen Kinder die 150 WPM ab Mitte der 2. Klasse. Spätestens zum Ende der 4. Klasse sollten alle Kinder diese Geschwindigkeit erreicht haben, da flüssiges Lesen fortan ein unverzichtbares Handwerkszeug für alle Schulfächer darstellt. Grob gesagt sollte ein Kind am Ende der 1. Klasse mindestens 35 WPM lesen können, am Ende der 2. Klasse 70-80 und am Ende der 3. Klasse über 115.

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Ab dem zweiten Halbjahr der 1. Klasse hat es sich bewährt, das Kind täglich 10 Minuten laut aus Erstlesebüchern vorlesen zu lassen. Ab dem Tempo von etwa 60-80 WPM lesen Kinder lieber still als laut und sollten täglich 20-30 Minuten in Büchern mit weniger Bildern lesen (Lesestufe 2-3). Erst nach dem täglichen Lesen sollten sie Zugang zu konkurrierenden Medien (Hörbücher, TV, Tablet…) bekommen. Je früher man die frustrierende Phase des unangenehm langsamen Tempos hinter sich lässt, desto besser. Erreichen Kinder bereits Ende der 1. Klasse über 80 WPM, haben sie früher Spaß am Lesen, weil es sich einfacher anfühlt. Sie haben Freude an Büchern, für die sie am Ende der 4. Klasse schon zu alt wären. Außerdem steigern sie ihre Geschwindigkeit weiter und erreichen dadurch leichter bessere Schulleistungen.

Lesen üben: Durchhalten lohnt sich

Lesefreude ist das Ziel, nicht die Ausgangslage! Eltern müssen verstehen, dass das Lesen bei niedrigen Geschwindigkeiten primär anstrengend ist und wenig Spaß macht. Es ist völlig normal, wenn das Kind jetzt noch nicht begeistert liest. Wichtig ist nur, dass die Erwachsenen nicht aufgeben. Mit Leseanfängern sollten sie jeden neuen Buchstaben fleißig üben (am besten mit Hilfe der „lautrichtigen Lesetabelle“ von Thomé und der IntraAct-Methode). Hat das Kind erst einmal die Geschwindigkeit von 150 WPM erreicht, wird das Lesen sich völlig anders anfühlen. Nur weiß das Kind das noch nicht es muss den Erwachsenen vertrauen können, dass der Weg zu diesem Ziel sich lohnen wird. 

Wusstest du bereits, wie wichtig die Lesegeschwindigkeit ist? Wann und wie übst du mit deinem Kind das Lesen? Hast du persönliche Tipps, um Kinder zum Lesen zu motivieren? Schreib uns einen Kommentar! 

Lehrerin & Sonderpädagogin

Dr. Miriam Stiehler

Dr. Miriam Stiehler ist Lehrerin, Sonderpädagogin und Mutter von vier Kindern. Seit 1998 unterrichtet sie Menschen aller Alters- und Begabungsstufen und führt seit 2004 eine eigene Praxis für Förderdiagnostik mit „Zwergenschule“ und Elternberatung. Außerdem gibt sie WissenSchaffer-Seminare für Eltern und Pädagogen, hält Vorträge an Universitäten und Akademien und publiziert Fachbücher. Auf ihrem Blog zur Förderdiagnostik findest du unter vielen anderen spannenden Beiträgen zum Thema „Lesegeschwindigkeit“ auch zwei Trainingspläne für die Grundschulzeit. Als vierfache Mutter und begeisterte Sprach-Lehrerin ist Leseliebe für sie „eine geistige Heimat, die ich überall mit hinnehmen kann.“ 

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